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Was ist das Objekt der Architekturgeschichte?

1. Objekt der Architekturgeschichte ist das Bauwerk als visuelles Objekt.

Die Architekturgeschichte untersucht Entstehung, Geschichte, Konstruktion, Besitzverhältnisse etc. von Bauwerken. Wirft man einen Blick in die Fachzeitschriften und Bücher, verfolgt man die Diskussionen und die Seminare im Fach Architekturgeschichte ( bzw. Baugeschichte), so fällt eines auf: Die Diziplin, deren Forschungsgegenstand die Bauwerke und deren Tätigkeit das wissenschaftliche Studium dieser Bauwerke sein soll, beschränkt sich weitgehend auf das Bauwerk als visuelles Objekt. Es ist das Bauwerk als visuelles Objekt, dessen Entstehung, Geschichte etc. untersucht wird. Vergleiche das Zitat aus dem Wiki-Artikel „Architekturgeschichte„:

Idealitär geht die Architekturgeschichte zunächst von einer Bauanalyse aus, ohne den historischen Kontext unmittelbar zu berühren. Das heißt, dass man zunächst beschreibt und beurteilt, wie an Bauten mit Material, Konstruktion, Funktion, Raum, Dekoration, Farbe etc. umgegangen wird. In dieser Phase spielt die Bauforschung eine bedeutende Rolle (Petzet /Mader): Sie leistet die zeichnerische und photographische Dokumentation eines Gebäudes mit allen seinen Teilen und bedient sich ferner diverser analytischer Methoden der Datierung.

Die Architekturgeschichte schränkt ihre Aufmerksamkeit auf die Eigenschaften ein, die man mit den Augen wahrnehmen kann:

Mit den Augen wahrnehmbar sind die Eigenschaften der Ausdehnung eines Bauwerkes ( Länge und Breite und Höhe) und seiner Teile sowie die Farbeigenschaften ( Farbton, -sättigung, Helligkeit).

Die meistgenutzten Medien der Architekturgeschichte sind Text und Abbildung sowie gelegentlich das Modell.

  • Ausdehnung des Bauwerkes und der Bauteile in den Dimensionen Höhe und Breite. Diese visuellen Eigenschaften werden – mit Hilfe der Fachterminologie – in der Form eines Textes beschrieben ( „Baubeschreibung“) und in der Form von Abbildungen gezeigt („Ansicht“ oder „Schnitt“).
  • Ausdehnung eines Bauwerkes und der Bauteile in den DImensionen Länge und Breite. Diese visuellen Eigenschaften  werden ebenfalls beschrieben und gezeigt („Grundriss“).
  • Gelegentlich werden Modelle verwendet, die die wesentlichen visuellen Eigenschaften von Höhe, Länge und Breite proportional verkleinert wiedergeben.
  • Die Farbe – als eine weitere visuelle Eigenschaft – spielt eine untergeordnete Rolle.
GroB St. Martin

GroB St. Martin

In der Auswahl dieser Medien drückt sich einerseits die Beschränkung der Architekurgeschichte auf die visuellen Eigenschaften aus. Zum andererseits erschweren bzw. verhindern diese Medien eine Hinwendung der Aufmerksamkeit auf die nicht-visuellen Eigenschaften.

2. Ein Bauwerk ist mehr als ein visuelles Objekt. Diese nicht-visuellen Eigenschaften eines Bauwerkes spielen bei der Planung, der Errichtung und Erhaltung und bei der Nutzung eine entscheidende Rolle.

Wenn man ein Wohnhaus plant, dann macht man sich nicht nur Gedanken über die visuellen Eigenschaften, also über die Grosse der Zimmer, die Haus- und Wandfarbe, sondern man zieht auch die nicht-visuellen Eigenschaften in die Uberlegungen ein:

  • das Haus soll im Sommer nicht zu warm, im Winter nicht zu kalt sein (Temperatureigenschaften).
  • die Aussenwände, der Boden, die Treppe sollen gut gegen Schall gedämmt sein (akustische Eigenschaften).
  • Dunstabzüge, Belüftungssysteme, sollen helfen, die Ausbreitung unangenehmer Gerüche zu vermeiden (Olfaktorische Eigenschaften).
  • Manche Oberflächen, z. B. im Bad oder der Küche, sollen glatt sein, damit man sie gut reinigen kann. andere sollen dagegen flauschig sein, z. B. Teppichboden im Wohnbereich (Taktuelle Eigenschaften).

Solche Überlegungen werden nicht nur bei der Planung eines Wohnhauses angestellt, sondern bei der Planung aller Bauwerke. Niemand möchte eine Oper mit schlechter Akustik, eine lärmerfüllte Bibliothek oder ein frostiges Schwimmbad.

Warum? Weil wir nicht nur Augen haben, sondern auch noch Ohren, Nase, Haut. Und mit diesen Sinnesorganen nehmen wir – genauso wie mit den Augen – rund um die Uhr unsere Umwelt wahr.  Wir Können unsere Wahrnehmung nicht abschalten.

Wenn die Umwelt, die wir dauernd wahrnehmen, zu kalt oder zu heiss, zu gross oder zu klein, zu laut oder zu leise ist, fühlen wir uns nicht wohl.  Was machen wir ? Die natürliche Umwelt, also Sonnenschein, Wind, Klima, etc. können wir nicht ändern. Wir können aber ein Bauwerk errichten, d.h. eine künstliche Umwelt schaffen.  Wir können selbst bestimmen, was wir wahrnehmen und was nicht: ob wir helle oder dunkle Farben sehen, ob wir Kälte oder Wärme spüren, ob wir Stille oder Lärm hören. Da wir nicht nur mit einem, sondern mit allen Sinnen wahrnehmen, wollen wir auch eine Umwelt, die nicht nur das Auge, sondern auch das Ohr, die Nase, die Haut, kurz: alle Sinne berücksichtigt.

3. Die Beschränkung der Architekturgeschichte auf die visuellen Eigenschaften hat negative Konsequenzen.

3.1 Die Beschreibung eines Bauwerkes ist unvollständig.

Die Beschreibungen der Architektur- und Baugeschichte sind unvollständig, weil nicht alle, sondern nur die visuellen Eigenschaften des Bauwerks berücksichtigt werden. Selbst wenn man nicht alle, sondern nur die wichtigsten Eigenschaften beschreiben will, so bedeutet das nicht selbstverständllich, sich nur auf die visuellen Eigenschaften zu beschränken.  Vor allem sollte man sich im Klaren sein, weshalb man eine bestimmte Eigenschaft als wichtiger als eine andere bewertet: allein aus Gewohnheit heraus? Weil wir in einer Kultur leben, in der das Visuelle dominiert?

3.2 Das Verständnis des Bauwerkes ist unvollständig.

Wenn die Menschen, die das Bauwerk geplant, errichtet und genutzt haben, bei ihren Überlegungen nicht nur die vusllen, sondern auch die nicht-visuellen Eigenschaften berücksichtigt haben, dann können wir deren Handeln nur bruchstückhaft verstehen, wenn wir uns allein auf die visuellen Eigenschaften beschränken. Dass eine bestimmte Bauform oftmals einen Kompromiss darstellt zwischen den einander widerstreitenden Anforderungen an die visuellen und an nicht-visuellen Eigenschaften (Beispiel: je grösser ein Zimmer, desto schwieriger ist es zu heizen), kann man nicht begreifen, wenn man seine Aufmerksamkeit nur auf die visuellen Eigenschaften beschränkt.

3.3 Die Architekturgeschichte reproduziert durch ihre Beschränkung auf die visuellen Eigenschaften des Objekts die Dominanz des Visuellen in unserer Kultur.

Das heisst: Die Architekturgeschichte trägt ihren Teil dazu bei, dass visuellen Eigenschaften viel, anderen Eigenschaften wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Sie lenkt die Aufmerksamkeit der Leser, der Studierenden, letztlich der gesamten Disziplin nicht auf die Wahrnehmung nicht-visueller Eigenschaften, sondern belässt alles beim Alten, belässt es beim starren Blick auf das Visuelle. Die Architekturhistoriker hinterfragen nicht, warum sie selbst sich auf lediglich die visuellen Eigenschaften beschränken ( warum nicht auf andere, warum überhaupt beschränken?).

5. Forderungen

5.1 Erfassung des gesamten Bauwerkes als visuelles und nicht-visuelles Objekt

5.2 Reflexion über den Beitrag der Architekturgeschichte – allgemeiner: der Kunstgeschichte und der Wissenschaft – zur Reproduzierung der Dominanz des Visuellen in unserer Kultur.